Der Wehrgraben

 

"... und ihr Betonherz
zuckt vor Verlangen
nach der Wildnis
verlorener Gärten."

 

Aus: Dora Dunkl, 21.10.1976: "Kanal in einer alten Stadt", in: Ein Haus aus Stein. Gesammelte Werke, edition wehrgraben, 1992, S. 276. 

 

Wäre es nach dem Willen des Steyrer Rathauses gegangen, gäbe es den Wehrgraben als solchen heute nicht mehr. Denn im Jahr 1972 hatte der Steyrer Gemeinderat beschlossen, den Wehrgrabenkanal zuzuschütten und die gewonnene Fläche durch modernen Wohnbau samt Parkplätze und Anlagen aufzufüllen. Einer Jahrhunderten alte Geschichte, dessen Zeugnis sich durch seine Bauten vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert auch heute noch wie ein lebendiges Architekturmuseum offenbart, sollte damals ein Ende gesetzt werden. Aus dieser Zeit stammt auch der oben zitierte Ausschnitt aus einem Gedicht von Dora Dunkl, das die Lyrikerin damals über den Wehrgraben verfasst hatte. 

Doch dank des Widerstands und des Einsatzes derer, die weiter dachten, blieb der Wehrgraben mit seinem unverwechselbaren Erscheinungsbild erhalten. "Das geringe Verkehrsaufkommen, die gute Besonnung und reichliche Durchgrünung vervollständigen die Lebensqualität dieses Stadtteils," schrieb Heribert Mader, federführend bei der Rettung des Wehrgrabens, in seinem Vorwort zu einem historischen Führer durch den Wehrgraben. (S.6). Das war in den 1980er Jahren. Mehr als 30 Jahre später sollen neue weitreichende Eingriffe, welche vor allem das unverbaute Ufer an der Steyr gegenüber dem Schloßberg und den einzigen großflächigen Grünbereich des Stadtteils erfolgen. 

 

Doch beginnen wir von vorne: 

 

Die Besiedelung des Wehrgrabens geht zurück auf das frühe 14. Jahrhundert, als sich zugereiste Handwerker niederließen. Dort hatten schon seit der Gründung der Styraburch im 10. Jahrhundert, Handwerker die Wasserkraft der Steyr genutzt, um Mühlen zu betreiben. Der Fluss, bis heute reich verzweigt, bot dafür die besten Voraussetzungen. Denn anders als das Wasser der Enns konnte es in der Steyr besser reguliert werden, da es sich in viele Arme aufteilte. Es wurde Eisen zu Schwertern, Bajonetten, Messern, Sicheln, Sensen, Ketten, Ringe, Nägel und Schrauben, Bohrer, Zangen, Sägen und so weiter verarbeitet.

 

Die Produktionsstätten des Wehrgrabens hießen Zeugstätten und wurden oft auch von verschiedenen Wirtschaftszweigen gemeinsam genutzt. So waren im Wehrgraben viele  andere Betriebe vertreten: so zum Beispiel eine Papiermühle, deren Existenz bereits um 1550 nachweisbar ist, auch gab es seit dem Ende des 16. Jahrhunderts Pulvermühlen samt damit verbundener Explosionen. Im 17. Jahrhundert wiederum entstand ein Bräuhaus, auch gab es unterschiedliche Gerbereien für die Erzeugung von Leder, das Köhlern am Kohlanger sowie Sägewerke und Kalkbrennereien. 

Der Rat der Stadt erließ 1529  eine eigene Ordnung für den Wehrgraben, welche die Arbeits- und Produktionsbedingungen regeln sollte, darunter Pflege und Wartung der Wehren und Schleusen: vor allem bei Hochwasser hing von ihnen das Schicksal des ganzen Stadtteils ab. Auch wurde ein Zimmermann für Reparaturen angestellt und die Aufteilung der Kosten und die Bedingungen der Bezahlung für die Erhaltung der Zeugstätten geregelt. Diese Vereinbarungen wurden in einem 14 Punkte Programm, der sogenannten Wehrgraben-Freiheit, festgelegt. Sie war bis 1879 in Kraft.

 

Neben dem eifrigen handwerklichen Leben waren im Wehrgraben auch soziale und karitative Einrichtungen (wie das Bürgerspital oder das Josefslazarett) sowie viele Badeanstalten beheimatet. Die erste wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts eröffnet, heute noch weist der Name Badgasse darauf hin. Die Bäder waren trotz des gegenreformatorischen Kampf gegen die als unmoralisch betrachtete Badekultur beliebte Treffpunkte des öffentlichen Lebens. Zwei Badeanstalten in der Badgasse (Foto) bestanden bis ins 20. Jahrhundert. 

Erst im 19. Jahrhundert veränderte sich das Gesicht des Stadtteils Wehrgrabens nachhaltig. Durch den Bauboom der Waffenfabrik von Josef Werndl wurden alte Gebäude geschliffen und durch Fabrikshallen, die den ganzen Wehrgraben durchzogen, ersetzt. Die Werndl-Werke waren 1869 als "Österreichische Waffenfabriks-Gesellschaft" gegründet worden, bis zum Ersten Weltkrieg wuchs Steyr zu einem bedeutenden Industriestandort an – die Steyr-Werke waren neben den Pilsner Skodawerken in Böhmen der größte Rüstungsbetrieb der Monarchie.

 

1913 baute man den Betrieb allerdings im Stadtteil Ennsleite aus: Man war nicht länger auf die Energiegewinnung durch Wasser angewiesen, die Industrieanlagen von Werndl im Wehrgraben standen nun leer. 

1964 löste sich auch die Wasserkommune auf und legte die Wasserrechte zurück, der Wehrgrabenkanal galt für viele nun als überflüssig und sollte betoniert werden. Nach Protesten vieler EinwohnerInnen und Sympathisanten auch von außerhalb, und letztendlich durch das Eingreifen des Bundesdenkmalamtes wurde den Plänen zur Zuschüttung des Wehrgrabenkanals ein Strich durch die Rechnung gemacht. 

Nach Jahren des Dornröschenschlafs begann allerdings auch eine allmähliche Aufwertung des viele Jahre als "Scherbenviertel" bezeichneten Stadtteils - ein Prozess, der bis heute nicht abgeschlossen ist. Mit den bekannten Begleiterscheinungen: Häuser werden manchmal bis zur Unkenntlichkeit umgebaut und renoviert (die Konservierung von Gebäuden bleibt auch in Steyr großteils ein Fremdwort), wodurch die Eigenheiten der Häuser verloren gehen, die Mieten steigen, der Wehrgraben wird nach außen hin als neues Schmuckkästchen von Steyr präsentiert. "Logieren geht über Studieren", meint ein Plakat einer Immobilienfirma zur Bewerbung von neuen Studierendenwohnungen. 

Mit einem Ausbau der Fachhochschule am Gelände des alten Gaswerks würde nicht nur die Verdrängung von sozial weniger begüterten Schichten fortgesetzt sondern neben einem Ende der zum Teil kulturell-kreativen Nutzung des Areals auch die letzte durchgängige Grünfläche des Stadtteils und das unbebaute Ufer zur Steyr hin zerstören werden. Bereits in den 1980er Jahren betonte der Architekt Roland Rainer, dass "ein solcher Stadtteil weder 'revitalisiert' noch 'modernisiert' werden kann, wenn er seine Eigenart nicht verlieren soll, dass also Bewahrung, Schonung, Pflege und Erhaltung das Ziel aller baulichen Bemühungen in diesem Raum bleiben muss, wenn ihm nicht seine Charakteristik verloren gehen soll." (Wippersberg, S. 5f).  

Literaturhinweise: 

Hans Stögmüller, Wehrgraben. Führer durch Geschichte und Arbeitswelt. Steyr 1992.

Walter Wippersberg , Der Wehrgraben in Steyr, Steyr 1982.

Reinhard Mittersteiner, Brigitte Kepplinger (Hg.), Glühendrot, krisenbleich. Zeitmontagen zu Arbeit und Kultur in der Industrieregion Steyr. Steyr 1998. 

 Arbeiterzeitung vom 24. April 1984: "Steyr: Wehrgraben nun unter Denkmalschutz".